What's the Matter?

Wie Matter die digitale Produktentwicklung fürs Smart Home verändert

vonFlorian BrandnerinTechnology

In letzter Zeit liest man in den IT-News immer mal wieder Schlagzeilen wie „Amazon bringt Matter auf weitere Echo-Geräte“, „Matter für Android und Google-Geräte ist da“ oder „Philips Hue: Matter-Update verspätet sich“. Aber was ist dieses Matter? Ist das nur ein neues Buzzword oder Spielzeug für Technikfreaks oder bringt das tatsächlich einen Mehrwert für Anwender:innen und Hersteller? Der Versuch eines groben Überblicks.

Was ist Matter?

Wikipedia sagt dazu: „Matter (ehemals Project Connected Home over IP, CHIP) ist ein proprietärer, lizenzfreier Verbindungsstandard für die Hausautomatisierung. Als Standard zielt Matter darauf ab, die Fragmentierung zwischen verschiedenen Anbietern zu reduzieren und Interoperabilität zwischen Smart-Home-Geräten und Internet-of-Things-Plattformen verschiedener Anbieter zu erreichen.“

Oder mit anderen Worten: Einige Firmen haben sich in einer Projektgruppe zusammengeschlossen, um einen neuen Standard zu schaffen, damit im Bereich der Hausautomatisierung Geräte unterschiedlicher Hersteller miteinander kommunizieren können. Es können von Lampen und Schaltern über Thermostate und Heizungen bis hin zu Fernsehern und Sprachassistenten alle Geräte problemlos miteinander kommunizieren. Der Standard selbst basiert auf dem herstellerunabhängigen Internet Protocol (IPv6). Weiterhin ist Matter zwar proprietär, die Nutzung ist aber lizenzfrei und Spezifikation wie auch Beispielcode sind kostenfrei verfügbar. Einzig für die Zertifizierung der Geräte sind Gebühren fällig.

Wieso noch ein Protokoll?

Aktuell gibt es zahlreiche verschiedene Protokolle und Standards, mit denen Hersteller ihre Geräte untereinander vernetzen. Manche benutzen WLAN oder Funkstandards wie Zigbee, Z-Wave und Bluetooth, andere Hersteller verwenden selbst entworfene und nicht öffentliche Protokolle. Dadurch ist es in vielen Fällen nicht möglich dass beispielsweise ein Schalter von Firma A eine Lampe von Firma B direkt schalten kann.

Existierende Standards sind oft nur für ein bestimmtes Anwendungsgebiet entworfen und nicht generisch genug oder erweiterbar. Sie eignen sich somit nur bedingt für andere Gebiete oder können aufgrund von Beschränkungen die neuesten Entwicklungen nicht abdecken. Ein Protokoll zur Steuerung der Beleuchtung eignet sich nur bedingt zur Heizungssteuerung und umgekehrt.

Matter versucht hier, alle aktuellen Anwendungsfälle im Bereich der Heimautomatisierung unter einen Hut zu bekommen und dabei offen für Erweiterungen und neue Gerätetypen zu sein. Ziel ist es, dass alle Geräte miteinander kommunizieren können, egal welches Übertragungsmedium sie dabei nutzen. Einzige Voraussetzung ist die Verwendung von IPv6, egal ob dabei Ethernet, WLAN oder ein anderer Funkstandard wie beispielsweise das neu eingeführte Thread (quasi ein Nachfolger von Zigbee) eingesetzt wird.

Ist doch eh nur wieder ein weiterer Standard...

Das Risiko bei neuen Standards ist immer, dass Hersteller nur zögerlich Geräte auf den Markt bringen. Bei Matter sind aber alle großen (und viele kleine) Firmen mit im Boot. Gründungsmitglieder der Projektgruppe sind unter anderem Amazon, Apple, Google und Comcast. Inzwischen (Stand Januar 2023) sind 276 Firmen Mitglieder, darunter nicht nur Chiphersteller wie ARM, Nordic Semiconductors und ST sondern auch zahlreiche Hersteller von Endkundengeräten wie Aqara, Busch-Jaeger, Danfoss, IKEA, LG, Nanoleaf, Samsung oder Signify.

Viele Hersteller haben den Support von Matter aber bereits konkret angekündigt, manche Sprachassistenten von Google und Amazon „sprechen“ Matter bereits seit einem Update Ende 2022 und in Android und iOS ist Matter auch bereits integriert. Auf den mobilen Plattformen werden standardisierte Setup-Flows bereitgestellt, um eine konsistente und simple Nutzererfahrung bei der Inbetriebnahme zu bieten. In der Regel muss nur der auf dem Gerät angebrachte QR-Code mit dem Smartphone gescannt werden und das Matter-Gerät wird in das eigene Netzwerk und Ökosystem aufgenommen.

Andere Firmen wie Signify (Philips Hue), IKEA oder Aqara stehen kurz davor, Matter durch Software-Updates in ihren Produkten nachzurüsten oder sind im Moment gerade dabei, die Updates auszurollen. Üblicherweise kann dies auch mit voller Abwärtskompatibilität erreicht werden. Matter wird dann also parallel zum bereits vorhandenen Protokoll implementiert und beides ist zeitgleich nutzbar.

Ein weiterer Aspekt, der zur einfachen Verbreitung beiträgt: Die komplette Spezifikation des Standards bekommt man ebenso kostenfrei wie auch Sourcecode und Beispiel-Implementierungen für zahlreiche Mikrocontroller. Das bedeutet, die Einstiegshürde ist niedrig und jeder kann mit relativ geringem Aufwand und Invest Matter auf seinen Devices oder Entwickler-Kits ausprobieren. Womöglich kann Matter so auch parallel zu dem bestehenden Protokoll implementiert werden.

Was bringt es den Anwender:innen?

Ein automatisiertes Heim besteht aktuell üblicherweise aus mehreren getrennten Netzen. Lampen und Lichtschalter kommunizieren beispielsweise über Zigbee und sind über einer Zigbee-Bridge mit dem Heimnetz verbunden. Heizkörperthermostate, Klimaanlage und Raumsensoren funken mit einem eigenen Protokoll im ISM-Band, und verwenden auch eine eigene Bridge für die Anbindung ans Heimnetz. Rollladenmotoren und deren Fernbedienungen benutzen wiederum ein eigenes Funknetz und eine eigene Bridge. Dazu kommen dann noch für jedes System eigene Apps für Smartphones und Sprachassistenten. Für Systeme mit Cloud-Funktionalität baut dann jedes für sich auch noch eine Verbindung zur Cloud des jeweiligen Anbieters auf.

Da die Systeme untereinander nicht kommunizieren können, sind kombinierte Aktionen der unterschiedlichen Geräte nicht ohne Weiteres möglich.

Sprechen die Geräte dagegen alle Matter, kann jedes Gerät mit jedem Gerät im selben Netz direkt kommunizieren. Zusätzliche Hardware ist nur nötig, um unterschiedliche Netzwerkarten zu verbinden, beispielsweise ein Thread-Funknetz mit dem WiFi (ein sogenannter Border-Router). So könnte dann per Druck auf einen einzelnen Funktaster das Licht im Raum gedimmt werden, die Rollläden und die Motorleinwand herunterfahren und der Beamer und die Heimkinoanlage eingeschaltet werden. Für die komplette Konfiguration ist nur eine einzige Matter-App nötig und Sprachassistenten benötigen gar keine Apps mehr, da sowohl Amazon wie auch Google in ihre Sprachassistenten Matter-Unterstützung direkt eingebaut haben. Bestehende Altgeräte wie z. B. die per Zigbee angeschlossenen Leuchtmittel können über eine Matter-kompatible Bridge angeschlossen und so voll in das Matter-Netz integriert werden.

Abgesehen davon ergeben sich für Anwender:innen noch weitere Vorteile: Man bindet sich nicht mehr an einen bestimmten Hersteller und dessen Produktangebot sondern kann beliebig Geräte unterschiedlicher Hersteller mischen, ohne dabei Nachteile zu erfahren.

Ansonsten sind in Matter auch die Erfahrungen der letzten Jahre eingeflossen und es wurden Funktionen berücksichtigt, die häufig bei den bestehenden Standards vermisst wurden. Neben Sicherheitsaspekten sind für Endanwender:innen wohl die Gruppen, bei Matter „Fabric“ genannt, am interessantesten. So können Geräte mehreren verschiedenen Fabrics zugeordnet werden, um sie zu gruppieren und den Zugriff zu kontrollieren. Damit könnten Eltern beispielsweise über ihr Smartphone alles im Haus steuern, die Kinder aber nur die Geräte in ihren jeweiligen Zimmern.

Was bringt er dem Hersteller?

Ein erster, wesentlicher Vorteil für Gerätehersteller ist der deutlich niedrigere Entwicklungsaufwand. Es muss weder ein neues Kommunikationsprotokoll entworfen werden, noch muss dieses Protokoll von Grund auf neu entwickelt werden. Die Spezifikation ist bereits vorhanden, geprüft und getestet. Für die eigene Implementierung gibt es meistens Beispiel-Implementierungen, auf deren Basis man aufbauen kann. Zusätzlich bieten immer mehr Hersteller passende Bibliotheken für ihre Chips und Betriebssysteme an und genauso sind Gegenstellen für Tests bereits verfügbar. Die Time-to-Market dürfte, zumindest bei einer Neuentwicklung, deutlich sinken.

Für kleinere Hersteller ergibt sich auch der Vorteil, kein komplettes Produktportfolio erschaffen zu müssen oder sich von dem Ökosystem eines anderen Herstellers abhängig zu machen. Ein Spezialist für Beleuchtungstechnik kann sich auf die Entwicklung von Matter-kompatiblen Lampen und Leuchtmitteln konzentrieren, ohne Gedanken an die Entwicklung von Schaltern und sonstigem Zubehör verschwenden zu müssen.

Durch den herstellerunabhängigen Standard bekommt man weiterhin eine höhere Flexibilität bei der Auswahl von Mikrocontrollern und Systemen allgemein. Kleine, einfache Lichtschalter können auf kostengünstigen kleinen Mikrocontrollern der Firma A laufen, die komplexe Lichtanlage auf leistungsfähigen Multi-Core-Prozessoren der Firma B mit komplexem Echtzeitbetriebssystem.

Vorteile & Nachteile

Vorteile:

  • Produktangebot: Langfristig dürfte das Angebot an Matter-kompatiblen Produkten deutlich über dem Angebot der aktuell vorhandenen Systeme liegen.

  • Austauschbarkeit: Matter-kompatible Geräte können unabhängig vom Hersteller miteinander kommunizieren. Selbst wenn ein Hersteller seine Produkte einstellt, kann das System weiterverwendet und mit anderen Matter-Geräten erweitert werden.

  • Offline-Betrieb: Die komplette Matter-Kommunikation läuft lokal, eine Verbindung ins Internet oder an einen Cloudserver ist nicht erforderlich.

  • Security: Durch den offenen Standard werden weitaus mehr Personen die Spezifikationen auf Fehler und Lücken prüfen als das ein einzelner Hersteller je selbst könnte.

  • Privatsphäre: Matter-Geräte lassen sich offline und mit herstellerunabhängigen Apps betreiben. Nur wenn Sonderfunktionen über eine Hersteller-Cloud verwendet werden sollen, ist eine Kommunikation über dessen Server-Systeme nötig.

  • Erweiterbarkeit: Der Standard selbst ist so offen gehalten, dass neue Gerätetypen problemlos integriert werden können, ohne die Kompatibilität zu gefährden.

  • Flexibilität: Matter erfordert nur ein IPv6-basiertes Netz. Das kann Ethernet sein, ein lokales Funknetz wie Wifi oder Thread, aber genauso gut auch 5G oder ein völlig anderes System.

  • Konzentration aufs Kerngeschäft: Als Hersteller von Leuchtmitteln kann man sich darauf konzentrieren, Leuchtmittel zu entwickeln. Es ist nicht mehr nötig, sich beispielsweise mit der Entwicklung einer dazugehörigen App zur Bedienung zu beschäftigen.

  • Reduzierter Vendor Lock-in: Hersteller können ihre Kunden schwieriger an ihr Ökosystem binden und einen Walled Garden erschaffen. Dass sich dies zu einem Nachteil für Anbieter entwickeln kann, zeigt der Entwicklungsstopp beim CSA-Mitglied Belkin.

Nachteile:

  • Codegröße: Matter hat womöglich höhere Anforderungen an Rechenleistung und Speicher des Controllers. Neben dem Matter-Code selbst ist auch ein IPv6-Stack nötig. Ein sehr einfach gehaltenes Protokoll mag hier deutlich geringere Systemanforderungen besitzen.

  • Reifegrad der Tools: Aktuell sind die bereitgestellten Tools zur Inbetriebnahme noch in einem frühen Stadium und wenig kundenfreundlich. Dieser Punkt sollte sich aber in naher Zukunft schnell auflösen.

  • Laufende Entwicklung: Genauso befinden sich die Code-Beispiele und Bibliotheken aktuell noch intensiv in der Entwicklung. Neue Releases und Code-Anderungen finden also womöglich häufig statt.

  • Unterstützte Produktgruppen: Mit Matter 1.0 werden nur sieben Produktgruppen unterstützt. Das Angebot soll sich aber mit den antizipierten halbjährigen Updates der Spezifikationen kontinuierlich erweitern.

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Über die Autoren

  • florian-brandner

    Über Florian Brandner

    Florian ist Software Engineer am Standort Hamburg. Obwohl ursprünglich Feinwerktechnik studierte, entwirft und entwickelt er seit circa 20 Jahren hardwarenahe Software für Industry, Automotive und Consumer Electronics. Und dies seit fünf Jahren in agilen Projekten bei slashwhy, zunächst als Software-Engineer, später zusätzlich auch als Product Owner.